GEFAHR!

Eragon verschlug es die Sprache. Fassungslosigkeit breitete sich in seinem Geist aus, während er versuchte, Murtaghs Behauptung als Unsinn abzutun. Die Abtrünnigen hatten keine Kinder, am allerwenigsten Morzan. Morzan! Der Mann, der die Drachenreiter an Galbatorix verriet und für den Rest seines Lebens der ergebenste Mitstreiter des Königs blieb. Wie ist das möglich?

Im nächsten Moment überrollte ihn Saphiras panisches Entsetzen. Sie verließ den Fluss und kam mit gefletschten Zähnen und drohend erhobenem Schwanz zwischen den Bäumen hindurch auf ihn zugestürmt. Sei auf alles gefasst, warnte sie ihn. Vielleicht besitzt auch er magische Kräfte.

»Du bist sein Sohn?«, fragte Eragon ungläubig und tastete verstohlen nach Zar’rocs Griff. Was könnte er von mir wollen? Steht er in Wahrheit in Diensten des Königs?

»Ich habe es mir doch nicht ausgesucht!«, rief Murtagh mit leidvoll verzerrter Miene. Verzweifelt riss er sich Wams und Hemd vom Leib. »Sieh dir das an!«, flehte er und wandte Eragon den Rücken zu.

Unsicher beugte dieser sich vor und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Dann sah er die knotige weiße Narbe auf Murtaghs gebräunter Haut, die sich von seiner rechten Schulter quer über den Rücken bis zur linken Hüfte herabzog - das Überbleibsel einer grauenvollen Qual.

»Siehst du das?«, fragte Murtagh verbittert. Er redete jetzt  schnell, als wäre er erleichtert, sich endlich jemandem anvertrauen zu können. »Ich war erst drei, als das passiert ist. Während einer seiner vielen trunkenen Wutanfälle warf Morzan sein Schwert nach mir, als ich an ihm vorbeilief. Er hat mir den ganzen Rücken aufgeschlitzt, und zwar mit genau dem Schwert, das du jetzt besitzt - das einzige Erbstück, das er mir hinterlassen hätte, wenn Brom es ihm nicht nach seinem Tod weggenommen hätte. Ich hatte wohl Glück - in der Nähe gab es einen Heiler, der mir das Leben rettete. Du musst mir glauben, ich hege keinerlei Sympathie für das Imperium oder für Galbatorix. Ich bin ihm in keiner Weise verpflichtet und führe nichts gegen dich im Schilde!« Sein Appell klang fast verzweifelt.

Noch immer voller Unbehagen nahm Eragon die Hand von Zar’rocs Griff. »Dann hat also ... «, seine Stimme stockte, »Brom deinen Vater getötet.«

»Ja«, sagte Murtagh. Er zog sich seine Kleider wieder an.

Hinter ihnen ertönte ein Horn. »Komm mit«, sagte Eragon rasch, »wir müssen weiter.« Murtagh schnalzte mit den Zügeln und trieb die Pferde in einen erschöpften Trab, während Arya schlaff auf Schneefeuer hin und her schaukelte. Saphira blieb bei Eragon. Ihre langen Beine konnten das Tempo mühelos mithalten. Im Flussbett könntest du besser laufen, sagte er, als sie durch ein dichtes Gewirr aus Ästen pflügte.

Ich lasse dich nicht mit ihm allein.

Eragon war froh, sie an seiner Seite zu haben. Morzans Sohn!  Zwischen zwei Schritten sagte er zu Murtagh: »Deine Geschichte kann man kaum glauben. Woher weiß ich, dass du mir keine Märchen erzählst?«

»Warum sollte ich dich belügen?«

»Du könntest ... «

Murtagh unterbrach ihn rasch. »Ich kann dir jetzt nichts beweisen. Zweifle ruhig weiter, bis wir die Varden erreichen. Sie werden mich schnell erkennen.«

»Ich muss es wissen«, drängte ihn Eragon. »Dienst du dem Imperium? «

»Nein. Und wenn ich es täte, was würde es mir einbringen, mit dir zu reisen? Wenn ich es darauf abgesehen hätte, dich zu fangen oder zu töten, hätte ich dich einfach im Gefängnis gelassen.« Murtagh stolperte über einen umgestürzten Baumstamm.

»Du könntest die Urgals zu den Varden führen.«

»Und warum bin ich dann immer noch bei dir? Ich weiß jetzt, wo die Varden sind. Aus welchem Grunde sollte ich mich ihnen ausliefern? Wollte ich sie angreifen, dann würde ich kehrtmachen und mich den Urgals anschließen.«

»Vielleicht bist du ja ein Meuchelmörder«, sagte Eragon tonlos.

»Vielleicht. Man kann ja nie wissen, was?«

Saphira?, fragte er nur.

Ihr Schwanz schwenkte über seinen Kopf. Wenn er dir schaden wollte, dann hätte er es längst getan.

Ein Ast traf Eragon im Nacken und riss eine kleine Platzwunde. Der Wasserfall wurde lauter. Ich will, dass du Murtagh im Auge behältst, wenn wir bei den Varden sind. Vielleicht stellt er ja irgendetwas Dummes an, und ich möchte nicht, dass man ihn versehentlich umbringt.

Ich tue mein Bestes, sagte sie, während sie sich zwischen zwei Bäumen hindurchzwängte und dabei mit ihren Schuppen die Rinde von den Stämmen abschälte. Hinter ihnen ertönte erneut das Horn. Eragon schaute über die Schulter und erwartete halb, Urgals aus der Dunkelheit stürmen zu sehen. Das dumpfe Rauschen des Wasserfalls vor ihnen verschluckte die Geräusche der Nacht.

Der Wald endete und Murtagh hielt die Pferde an. Sie standen auf einem Kiesstrand am linken Mündungsufer des Bärenzahnflusses. Der tiefe See Kóstha-mérna füllte das gesamte Tal aus und versperrte ihnen den Weg. Das Wasser schimmerte im funkelnden Sternenlicht. Die Berghänge grenzten den Weg um das Gewässer auf zwei schmale Uferstreifen zu beiden Seiten des Sees ein; beide waren nur wenige Schritt breit. Am anderen Ende des Sees stürzte ein mächtiger, weiß schäumender Wasserfall über schwarze Felsklippen in die Tiefe.

»Gehen wir zu dem Wasserfall?«, fragte Murtagh gepresst.

»Ja.« Eragon übernahm die Führung und wählte den linken Weg um den See. Der Kies war mit glitschigem Schlamm überzogen. Zwischen der steil aufragenden Talwand und dem See war kaum Platz für Saphira, sodass sie halb im Wasser waten musste.

Sie hatten die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Murtagh unvermittelt sagte: »Urgals!«

Eragon wirbelte herum. Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln. Am Ufer des Kóstha-mérna, wo sie selbst noch vor wenigen Minuten gestanden hatten, strömten ungeschlachte Gestalten aus dem Wald. Die Urgals scharten sich am See zusammen. Einer von ihnen deutete auf Saphira; kehlige Laute drangen übers Wasser. Sofort teilte sich die Horde in zwei Gruppen auf und stürmte auf beiden Seiten um den See, was Eragon und Murtagh keinen Fluchtweg mehr ließ. Die schmalen Uferstreifen zwangen die Urgals, hintereinander zu gehen.

»Los, lauft!«, brüllte Murtagh, zückte sein Schwert und versetzte den Pferden einen Klaps auf die Flanken. Saphira stieg ohne Ankündigung in die Luft und flog den Urgals entgegen.

»Bleib hier!«, rief Eragon und fügte lautlos hinzu: Komm zurück!,  doch sie flog einfach weiter, ohne auf ihn zu hören. Mit schmerzlicher Anstrengung riss er den Blick von ihr los und rannte weiter, Zar’roc in der Hand.

Mit lautem Gebrüll schoss Saphira im Sturzflug auf die Urgals zu. Sie versuchten, sich zu verteilen, saßen an der Felswand jedoch in der Falle. Sie packte einen der Kull mit den Klauen, schleppte die kreischende Kreatur in die Höhe und schnappte mit den Fängen nach ihm. Im nächsten Moment klatschte der schlaffe Leib ins Wasser; ihm fehlten ein Arm und ein Bein.

Die Kull stürmten weiter ungehindert um den Kóstha-mérna. Mit dampfenden Nasenlöchern flog Saphira erneut auf sie zu. Sie wälzte und drehte sich in der Luft, als ein schwarzer Pfeilhagel auf sie zuschoss. Die meisten Pfeile prallten von ihren Schuppen ab, doch sie schrie auf, als der Rest ihre Flügel durchbohrte.

Eragon spürte ihren Schmerz als unangenehmes Zwicken im  Arm und musste sich mit aller Kraft davon abhalten, ihr zu Hilfe zu eilen. Angst durchströmte ihn, als er sah, dass die Urgals ihnen immer näher kamen. Er versuchte, schneller zu laufen, doch seine Muskeln waren zu müde, und er rutschte auf dem glitschigen Kies ständig aus.

Dann stürzte sich Saphira mit einem lauten Platschen in den Kóstha-mérna. Sie tauchte vollständig unter, während der See hohe Wellen schlug. Die Urgals starrten nervös auf das schwarze Wasser, das an ihre Füße schwappte. Einer grunzte etwas Unverständliches und stieß seinen Speer in den See.

Das Wasser spritzte auf, als Saphiras Kopf aus der Tiefe hoch-schoss. Ihr Maul schloss sich um den Speer und zerbrach ihn wie einen Zweig, als sie ihn dem Kull mit einem heftigen Ruck aus der Hand riss. Bevor sie den Urgal selbst packen konnte, stießen seine Gefährten mit ihren Speeren nach ihr und stachen ihr in die Nase.

Saphira riss den Kopf zurück, fauchte wütend und peitschte mit dem Schwanz durchs Wasser. Den Speer auf sie gerichtet, versuchte der vorderste Kull, sich an ihr vorbeizuschlängeln, blieb aber stehen, als sie nach seinen Beinen schnappte. Die hinter ihm marschieren-den Urgals kamen nicht vorwärts, solange sie ihn nicht vorbeiließ. Unterdessen stürmten die Kull auf der anderen Seite des Sees weiter auf den Wasserfall zu.

Ich habe sie aufgehalten, sagte sie knapp zu Eragon, aber beeilt euch, viel länger schaffe ich es nicht. Am Seeufer machten sich Bogenschützen bereit. Eragon konzentrierte sich darauf, schneller zu rennen, aber ein schlüpfriger Stein gab unter seinem Stiefel nach, und er kippte vornüber. Murtaghs kräftiger Arm hielt ihn auf den Beinen.

Sie waren jetzt fast am Wasserfall. Der Lärm war ohrenbetäubend, wie bei einer Lawine. Eine weiße Wasserwand stürzte über den Fels in die Tiefe und krachte mit solcher Wucht in den See, dass ein feiner Sprühnebel bis zu ihnen heranwehte und ihre Gesichter befeuchtete. Vier Schritt vor dem donnernden Vorhang wurde der Uferstreifen breiter, sodass sie etwas mehr Platz hatten.

Saphira brüllte auf, als ein Urgal-Speer ihre Flanke streifte, dann tauchte sie unter die Wasseroberfläche. Nach ihrem Rückzug rannten die Urgals mit langen Schritten los. Sie waren nur noch wenige hundert Schritte entfernt. »Was tun wir jetzt?«, fragte Murtagh kühl.

»Ich weiß nicht. Ich muss überlegen!«, rief Eragon und versuchte, sich Aryas letzte Anweisungen ins Gedächtnis zu rufen. Er schaute suchend über den Boden, bis er einen apfelgroßen Stein fand, und hob ihn auf, dann schlug er damit gegen die Felsklippe neben dem Wasserfall und rief: »Aí Varden abr du Shur’tugals gata vanta!«

Nichts geschah.

Er versuchte es erneut, rief lauter als zuvor, handelte sich aber nur eine Schramme auf der Hand ein. Verzweifelt wandte er sich zu Murtagh um. »Wir sitzen in der Falle ... « Er verstummte, als plötzlich Saphira aus dem See sprang und sie dabei mit eiskaltem Wasser bespritzte. Sie landete auf dem Kies und kauerte sich kampfbereit hin.

Die Pferde wichen erschrocken zurück und wollten schon durchgehen, aber Eragon schickte ihnen ein paar beruhigende Gedanken. Hinter dir!, rief Saphira. Er fuhr herum und sah den vordersten Urgal auf sich zustürmen, den schweren Speer hoch erhoben. Aus der Nähe sah ein Kull wie ein kleiner Riese aus, mit Armen und Beinen so dick wie Baumstämme.

Murtagh zog den Arm zurück und warf mit unglaublicher Schnelligkeit sein Schwert. Die lange Waffe drehte sich einmal um sich selbst, dann traf die Klingenspitze den Kull mit einem dumpfen Knirschen in die Brust. Der Hüne kippte mit einem erstickten Gurgellaut zu Boden. Bevor der nächste Urgal angriff, stürmte Murtagh nach vorn und riss das Schwert aus dem Leichnam.

Eragon hob die Handfläche und rief: »Jierda theirra Kalfis!«  Zwanzig der heranstürmenden Urgals stürzten schreiend in den Kóstha-mérna und hielten sich die Unterschenkel, aus denen die gebrochenen Schienbeine hervorragten. Die Übrigen stürmten achtlos an ihren gefallenen Kampfgenossen vorbei. Eragon kämpfte  gegen die Erschöpfung und stützte sich mit einer Hand an Saphira ab.

Ein in der Dunkelheit unsichtbarer Pfeilhagel zischte an ihnen vorbei und prallte gegen die Klippe. Eragon und Murtagh duckten sich und hielten sich schützend die Hände über den Kopf. Saphira sprang über sie, sodass ihr Panzer die beiden Menschen und ihre Pferde schützte. Ein Klirren ertönte, als ein zweiter Pfeilhagel an ihren Schuppen abprallte.

»Was jetzt?«, rief Murtagh. In der Klippe hatte sich noch keine Öffnung aufgetan. »Hier können wir nicht bleiben!«

Eragon hörte Saphira knurren, als ein Pfeil am Rand ihres Flügels stecken blieb und die dünne Haut zerriss. Er schaute sich fieberhaft um und versuchte zu begreifen, warum Aryas Anweisungen nicht funktioniert hatten. »Ich verstehe das nicht! Wir sind genau dort, wo wir sein sollen!«

»Warum fragst du nicht die Elfe und vergewisserst dich?«, schlug Murtagh vor. Er ließ sein Schwert fallen, zog den Bogen aus Tornacs Satteltasche und schoss zwischen den Zacken auf Saphiras Rücken einen Pfeil ab. Augenblicke später stürzte ein Urgal ins Wasser.

»Jetzt? Sie lebt ja kaum noch! Woher soll sie die Kraft nehmen, um mit mir zu reden?«

»Ich weiß nicht«, rief Murtagh, »aber lass dir lieber etwas einfallen, denn wir können keine ganze Armee abwehren!«

Eragon, knurrte Saphira drängend.

Was denn?

Wir stehen auf der falschen Seite des Wasserfalls! Ich habe Aryas Erinnerungen auch gesehen, und mir wurde eben klar, dass dies nicht die richtige Stelle ist. Sie zog den Kopf ein, als ein weiterer Pfeilhagel auf sie loszischte. Ihr Schwanz peitschte hin und her, als die Pfeile sie trafen. Ich kann hier nicht mehr stehen bleiben! Sie schießen mich ab!

Eragon schob Zar’roc in die Scheide zurück und rief: »Die Varden sind auf der rechten Seite des Wasserfalls. Wir müssen unter dem Wasser hindurch!« Mit Schrecken sah er, dass die Urgals auf  der anderen Seite des Kóstha-mérna den Wasserfall schon fast erreicht hatten.

Murtaghs Blick schoss zu den herabstürzenden Wassermassen hinauf, die ihnen den Weg versperrten. »Die Pferde kriegen wir da nie im Leben durch, selbst wenn wir uns auf den Beinen halten können. «

»Ich werde sie überzeugen, uns zu folgen«, sagte Eragon. »Und Saphira kann Arya tragen.« Die Schreie der Urgals ließen Schneefeuer wütend schnauben. Die Elfe schwankte auf seinem Rücken hin und her und bemerkte nichts von der Gefahr.

Murtagh zuckte mit den Schultern. »Immer noch besser, als von den Ungeheuern in Stücke gerissen zu werden.« Eilig schnitt er Arya vom Sattel los, und Eragon fing sie auf, als sie zu Boden glitt.

Ich bin bereit, sagte Saphira und legte sich flach auf den Boden. Die heranstürmenden Urgals zögerten, unsicher, was der Drache vorhatte.

»Jetzt!«, rief Eragon. Er und Murtagh hoben Arya hinauf und schoben ihre Beine in die Sattelschlaufen. Sobald sie fertig waren, schnellte Saphira in die Luft und flog auf die andere Seite des Wasserfalls zu. Bei diesem Anblick schrien die Urgals wütend durcheinander und deckten sie mit einem Pfeilhagel ein. Die meisten Geschosse prallten an ihren Schuppen ab, aber einige durchbohrten ihre Flügel. Die Kull auf der anderen Uferseite beschleunigten noch einmal ihre Schritte, um den Wasserfall zu erreichen, bevor sie landen würde.

Eragon drang mit seinem Bewusstsein in den verschreckten Geist der Pferde ein. In der alten Sprache erzählte er ihnen, dass die Urgals sie töten und auffressen würden, wenn sie nicht durch den Wasserfall schwammen. Obwohl sie nicht alles verstanden, was er sagte, war die Bedeutung seiner Worte doch klar.

Da warfen Schneefeuer und Tornac die Köpfe zurück und sprangen in die herabstürzenden Fluten, die mit voller Wucht auf ihren Rücken krachten. Sie strampelten sich ab, um an der Oberfläche zu bleiben. Murtagh schob sein Schwert in die Scheide und sprang  ihnen nach. Sein Kopf verschwand im schäumenden Nass, dann tauchte er wieder auf und spuckte Wasser.

Die Urgals waren direkt hinter Eragon. Er hörte das Knirschen ihrer Füße auf dem Kies. Mit einem lauten Kampfschrei sprang er Murtagh hinterher und schloss die Augen, bevor das eisige Wasser ihn umfing.

Die gewaltige Last des Wasserfalls schlug mit einer Wucht auf seine Schultern nieder, die ihm die Sinne raubte. Das Tosen war ohrenbetäubend laut. Er wurde auf den Grund gedrückt und schrammte mit den Knien über den felsigen Seeboden. Mit aller Kraft stieß er sich ab und schoss halb aus dem Wasser. Bevor er Luft schnappen konnte, drückte die tosende Kaskade ihn wieder unter die Oberfläche.

Er sah nur noch verschwommenen weißen Schaum. Fieberhaft versuchte er, an die Oberfläche zu gelangen, um Luft in seine brennenden Lungen zu bekommen, aber er kam nur wenige Fuß hoch, bevor es ihn erneut in die Tiefe zog. Er geriet in Panik, ruderte mit Armen und Beinen und kämpfte gegen die Wassermassen an. Von Zar’rocs Gewicht und dem seiner durchnässten Kleider hinabgezogen, sank er auf den Grund des Sees zurück und war nicht mehr imstande, die alten Worte auszusprechen, die ihn retten konnten.

Plötzlich packte ihn eine kräftige Hand im Genick und zog ihn durchs Wasser. Sein Retter schwamm mit schnellen, kurzen Stößen durch den See. Eragon hoffte, dass es Murtagh war und kein Urgal. Sie erreichten den Kiesstrand. Eragon zitterte am ganzen Leib und spuckte Wasser.

Zu seiner Rechten hörte er Kampfgeräusche und wirbelte in Erwartung eines Urgal-Angriffs herum. Die Ungeheuer auf der anderen Seite des Wasserfalls - dort, wo er eben noch gestanden hatte - stürzten unter einem vernichtenden Pfeilhagel zu Boden. Die Geschosse wurden aus Felsspalten in der Klippenwand abgefeuert. Dutzende Urgals trieben bereits tödlich getroffen im Wasser. Die Kulls auf seiner Uferseite wurden auf dieselbe Weise angegriffen. Keine der beiden Gruppen konnte ihre ungeschützten Positionen  verlassen, da auf beiden Uferstreifen hinter ihnen wie aus dem Nichts Heerscharen von Kriegern aufgetaucht waren. Das Einzige, was verhinderte, dass die vordersten Kulls Eragon erreichten, war der stete Strom herabregnender Pfeile - die unsichtbaren Bogenschützen schienen fest entschlossen, die Urgals von ihm fern zu halten.

Eine mürrische Stimme neben Eragon sagte: »Akh Guntéraz dorzada! Was haben sie sich nur dabei gedacht? Du wärst beinahe ertrunken.« Eragon schrak überrascht zusammen. Es war nicht Murtagh, der neben ihm stand, sondern ein kleinwüchsiger Mann, der ihm kaum bis zum Ellbogen reichte.

Der Zwerg wrang sich emsig das Wasser aus den langen Bartflechten. Er hatte einen kräftigen Brustkorb, über dem er ein ärmel-loses Kettenhemd trug, das seine muskelbepackten Arme freiließ. An einem breiten Ledergürtel um seine Hüfte hing eine Streitaxt. Auf dem Kopf trug er eine eisenumrandete Ochsenhautkappe, auf der das Symbol eines von zwölf Sternen umschlossenen Hammers prangte. Selbst mit Helm maß er kaum vier Fuß. Er schaute sehnsüchtig zum Kampfgeschehen hinüber und sagte: »Barzul! Ich wünschte, ich könnte mich zu ihnen gesellen!«

Ein Zwerg! Eragon zückte Zar’roc und schaute sich nach Saphira und Murtagh um. Zwei zwölf Fuß dicke Steintüren hatten sich im Fels geöffnet und offenbarten einen breiten, fast dreißig Fuß hohen Tunnel, der mitten ins Bergmassiv hineinführte. Eine Reihe flammenloser Lampen erfüllte den Gang mit hellblauem Licht, das bis auf den See hinausschien.

Saphira und Murtagh standen am Tunneleingang, umstellt von mehreren Männern und Zwergen. Hinter Murtagh hatte sich ein kahlköpfiger, bartloser Mann aufgebaut, der ein purpur- und goldfarbenes Gewand trug. Er war deutlich größer als die anderen Männer - und er hielt Murtagh einen Dolch an die Kehle.

Eragon wollte auf seine magischen Kräfte zurückgreifen, doch der Mann in dem rotgoldenen Gewand sagte mit scharfer, gefährlich klingender Stimme: »Halte ein! Wenn du Magie gebrauchst,  werde ich deinen Freund töten, der so nett war, mir zu erzählen, dass du ein Drachenreiter bist. Glaub ja nicht, ich würde es nicht bemerken. Du kannst nichts vor mir verbergen.« Eragon machte Anstalten, etwas zu sagen, doch der Mann knurrte ihn an und drückte Murtagh den Dolch noch stärker an die Kehle. »Sei still! Wenn du auch nur ein Wort sagst oder etwas tust, wozu ich dich nicht aufgefordert habe, stirbt er. So, und jetzt alle Mann rein.« Er ging voraus in den Tunnel, Murtagh vor sich her treibend, behielt dabei aber auch Eragon im Auge.

Saphira, was soll ich tun?, fragte Eragon rasch, als die Männer und Zwerge dem Anführer folgten, die Pferde im Schlepptau.

Geh mit, riet sie ihm, und lass uns hoffen, dass wir mit heiler Haut davonkommen. Sie trat ebenfalls in den Tunnel und zog die nervösen Blicke der anderen auf sich. Eragon folgte ihr angesichts der zahlreichen Augenpaare, die ihn wachsam beobachteten, nur widerwillig. Sein Retter, der Zwerg, ging neben ihm her, eine Hand am Griff seiner Streitaxt.

Völlig erschöpft schlurfte Eragon in den Berg hinein. Hinter ihnen fielen die steinernen Türen so leise wie ein gehauchtes Flüstern zu. Er schaute zurück und sah nur eine nahtlose Felswand, wo eben noch der Tunneleingang gewesen war. Sie waren im Innern des Berges gefangen. Aber war es für sie hier sicherer als draußen?

 

Das Vermaechtnis der Drachenreiter
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